Unangemessenes Verhalten von Pflegekräften gegenüber Heimbewohnern ist häufiger Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung – insbesondere, wenn es zu schweren Misshandlungen bis hin zu Tötungsdelikten kommt. Weit weniger im Fokus stehen dagegen Gewalt und Aggressivität, die von Heimbewohnern ausgehen.
Dabei dürfte das der häufigere Fall sein. Zum Glück sind spektakuläre Entgleisungen und Übergriffe eher die Ausnahme als die Regel. Mit Sicherheit betrifft aggressives Verhalten nur eine Minderzahl an Heimbewohnern. Aber es genügt ein Fall pro Heim, um das dortige Pflegepersonal vor Herausforderungen zu stellen. Oft sind sogar mehrere Heimbewohner auffällig. Dabei sind die Pflegekräfte bereits durch ihre “normalen” Aufgaben stark belastet.
Unterschiedlichste Formen der Aggressivität und Grenzüberschreitung
Es gibt eine Vielzahl an Untersuchungen zur Aggressivität von Heimbewohnern und -patienten. Viele davon beziehen sich auf die USA. Mit gewissen Einschränkungen sind die dortigen Befunde auch auf deutsche Verhältnisse übertragbar. Studien aus den Niederlanden und Skandinavien bestätigen das Bild – allerdings zum Teil aus anderen Perspektiven. Die Erscheinungsformen von Bewohner- und Patienten-Aggressivität in stationären Einrichtungen sind vielfältig.
Gewalt kann sich sehr unterschiedlich äußern. Sie betrifft diverse Formen und Intensitäten körperlicher Gewalt, verbal aggressives Auftreten, sexuelle Belästigungen, soziale Ausgrenzung, Übergriffigkeit und Ignorieren der Privatsphäre oder unangebrachtes “Revierverhalten”, um die wichtigsten Gewaltformen zu nennen. Daneben findet man häufig mildere Formen der Aggressivität oder von auffälligem Verhalten – zum Beispiel Schreien, ruheloses Umherwandern, ständiges Satz-Wiederholen, unangemessene Be- oder Entkleidung, Verletzung des “gebührenden Abstands”, Entwenden und Verstecken von Gegenständen, übertriebene Forderung nach Aufmerksamkeit. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen.
Wen betrifft aggressives Verhalten und wie wirkt es sich aus?
Die Studien zeigen, dass Aggressivität und gewalttätiges Verhalten durchaus häufiger vorkommen. Keineswegs zielt die Aggression immer auf Pflegekräfte. Im Gegenteil: andere Heimbewohner sind in der Regel sehr viel häufiger betroffen. In einer US-Studie aus dem Jahre 2007 richteten sich 89 Prozent der Aggressionsfälle mit nachfolgendem Polizeieinsatz gegen andere Heimbewohner. Eine andere Untersuchung in einer großen Pflegeeinrichtung ergab, dass 44 Prozent aller Gewaltfälle von nur sechs Heimbewohnern ausgingen. Hier waren 62 Prozent der Opfer Mitbewohner.
In der Mehrzahl der Fälle kommt es nicht zu körperlichen Verletzungen. Wenn, dann bleibt es meist bei “Blauen Flecken”, Prellungen oder Platzwunden, Frakturen sind selten, tödliche Folgen die große Ausnahme – aber auch nicht gänzlich ausgeschlossen. Nicht zu unterschätzen sind die psychischen Folgen von Heimgewalt. Sie reichen vom “Empfinden als Opfer” über Angst- und Ohnmachtsgefühle oder Depressivität bis zu posttraumatischen Belastungsstörungen. Traktierte Heimbewohner dürften wegen eines verbreiteten Gefühls der Hilflosigkeit tendenziell mehr leiden als Pflegekräfte, die sich wehren können.
Was sind die Ursachen von Heim-Aggressivität?
Aggressionen sind fast immer eine Folge von Frustrationen, mögen diese objektiv begründet oder nur subjektiv empfunden sein. Frustrationen entstehen wiederum aus nicht befriedigten Bedürfnissen, seien diese angemessen oder nicht. Ein weiterer Auslöser für Aggression sind Angstgefühle. Eine gewisse Bereitschaft zur Aggression ist dem Menschen immanent, sie sicherte in früheren Zeiten das Überleben. Normalerweise können wir unsere Aggressionen unter Kontrolle halten. Für manchen Heimbewohner und Patienten gilt das leider nicht.
Die Ursachen für Kontrollverlust sind vielfältig. Folgewirkungen von Alkohol- und Drogenmissbrauch, psychische Erkrankungen, oder Demenz verstärken die Gewaltneigung. Sie führen nicht selten zu einer verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung, Bedrohungsgefühlen und Wahnvorstellungen verbunden mit dem Bedürfnis, sich wehren zu müssen. Rund 70 Prozent der Heimbewohner leiden unter kognitiven Beeinträchtigungen. Solche Einschränkungen gehen häufig mit erhöhter Aggressivität einher, erhöhen aber auch die Wahrscheinlichkeit, zum Opfer von Gewalt zu werden. Die spezifische Situation im Heim mit ihren eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten und Freiräumen kann ebenfalls Gewaltbereitschaft fördern. Natürlich spielt auch die jeweilige Persönlichkeit und Sozialisation eine Rolle.
Wie sollten Pflegekräfte am besten mit aggressivem Verhalten umgehen?
Für das Pflegepersonal stellen Gewalt und Aggressivität im Heim immer eine besondere Herausforderung dar. Sie bedeuten nicht nur eine potentielle Gefährdung für Bewohner bzw. Patienten und Pflegekräfte, sondern sind mit Stress, Unruhe und Störung des normalen Betriebsablaufs verbunden. Ein Patentrezept zum Umgang mit Aggression und Gewalt gibt es nicht, jede Situation und Konstellation ist anders.
Grundsätzlich sollte in der Einrichtung eine “gewaltfreie” Atmosphäre herrschen. Das fängt bereits beim Verhalten der Pflegekräfte untereinander und gegenüber den Bewohnern bzw. Patienten an. Aggressive Antworten des Pflegepersonals auf aggressives Verhalten wirken eskalierend und sind ein negatives Vorbild. Das sollte vermieden werden, Deeskalation ist das Ziel. Ruhige Sachlichkeit ist ein – nicht immer leicht einzuhaltendes – Prinzip. Oft kann eine Situation durch Beschäftigung oder Ablenkung entschärft werden.
Im Übrigen gilt “Safety First” – für Bewohner, Besucher und Pflegepersonal. Kann eine Situation nicht alleine bewältigt werden, sollte immer Hilfe geholt werden – von anderen Pflegekräften, notfalls von außen.
Berücksichtigung in der Pflegeausbildung
Der richtige Umgang mit Gewalt und Aggressivität will gelernt und geübt sein. Deeskalationsstrategien und richtiges Verhalten gehören daher zur Weiterbildung in Heimen und Pflegeeinrichtungen. Nur wenn die Reaktion in schwierigen Situationen regelmäßig trainiert und “verinnerlicht” ist, steht man im Ernstfall nicht hilflos da und Deeskalation gelingt.