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Nadelstichverletzungen zählen zu den häufigsten Arbeitsunfällen in medizinischen Einrichtungen und erfordern schnelles Handeln im Hinblick auf die Klärung des Infektionsstatus sowie der Durchführung einer postexpositionellen Prophylaxe.
Welche Erstmaßnahmen sollten nach einer Nadelstichverletzung erfolgen? Welche Erkrankungen können durch eine Nadelstichverletzung übertragen werden? Und wie hoch ist eigentlich die Übertragungswahrscheinlichkeit? Mehr zu dem Thema im folgenden Beitrag.
Was ist eine Nadelstichverletzung?
Unter dem Oberbegriff Nadelstichverletzung – auch als Inokulationsverletzung bezeichnet – werden jegliche Stich-, Schnitt- oder Kratzverletzungen der Haut verstanden, die durch scharfe oder spitze medizinische Instrumente verursacht werden, und mit Patientenblut oder anderen potentiell infektiösen Körperflüssigkeiten verunreinigt sein können.
Ob mit einer Nadel, einer Lanzette, einer Kanüle, einem Skalpell oder mit chirurgischen Drähten: jegliche Art von Verletzung zählt als Nadelstichverletzung. Hierbei spielt es keine Rolle, ob die Wunde infolge der Verletzung blutet oder nicht.
Im Gesundheitswesen sind Nadelstichverletzungen die häufigsten Verletzungsarten – fast 50 Prozent aller gemeldeten Versicherungsfälle im Gesundheitsdienst werden Nadelstichverletzungen zugeordnet. Der Europäischen Union zufolge ist von mehr als einer Millionen Nadelstichverletzungen in der EU pro Jahr die Rede. Trotz allem ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer der tatsächlichen Zahl an Verletzungen höher ist, weil bei Weitem nicht jede Verletzung dokumentiert bzw. gemeldet wird.
Nadelstichverletzung: Welche Berufsgruppe ist betroffen?
Nadelstichverletzungen sind ein unterschätztes Risiko, denn im hektischen Praxisalltag ist niemand gefeit davor.
Im Hinblick auf Schnitt- und Stichverletzungen zählen insbesondere Pflegekräfte zur am häufigsten betroffenen Berufsgruppe. Am zweithäufigsten verletzen sich Ärztinnen und Ärzte.
Darüber hinaus sind auch weitere Beschäftigte im Gesundheitsdienst, wie Medizinische Fachangestellte, auch Reinigungskräfte sowie Angehörige anderer Berufsgruppen der Versorgung und Entsorgung gefährdet. Als Unfallursache werden hier nicht ordnungsgemäß entsorgte spitze, scharfe medizinische Instrumente, darunter zum Beispiel benutzte Insulinspritzen, genannt.
Bei dem tagtäglichen Kontakt mit Patientinnen und Patienten, Bewohnerinnen und Bewohnern und der Umgang mit Blut, Blutprodukten und anderen Körperflüssigkeiten ist davon auszugehen, dass diese möglicherweise infektiös sind, weshalb ein professionelles und verantwortungsvolles Arbeiten vorauszusetzen ist.
Ausgeführte Tätigkeiten mit Stichgefahr
Folgende Tätigkeiten, die man ausführt und bei der man sich eine Stichverletzung schnell zuziehen kann, können genannt werden:
- Chirurgische Tätigkeiten ohne Nähen
- Entsorgung (nicht ordnungsgenmäß/ nicht in einem dafür geeigneten Abfallbehälter, nicht unmittelbar nach Gebrauch)
- Recapping (= die Kanüle wurde auf die Schutzkappe zurück gesteckt)
- Injektion
- Blutentnahme
- Pflegerische Tätigkeiten
- Aufräumen
- OP-Tätigkeit ohne nähere Angaben
- Anlage/ Zugang eines zentralen Venenkatheters
- Nähen
- Entnahme von Körperflüssigkeiten
- Instrumentenaufbereitung
- Blutzuckerbestimmung
Bei den oben genannten Tätigkeiten droht Stichgefahr und insbesondere bei Blutentnahmen, Punktionen zur Entnahme von Körperflüssigkeiten und beim Legen von Gefäßzugängen ist das Infektionsrisiko erhöht.
Welche Erkrankungen können durch Nadelstichverletzung übertragen werden und wie hoch ist das Risiko?
Die größte Bedeutung im Hinblick auf die Übertragung von Krankheitserregern infolge einer Nadelstichverletzungen haben das:
- Hepatitis B Virus (HBV)
- Hepatitis C Virus (HCV)
- Human-Immundefizienz-Virus (HIV)
Das Risiko einer HBV-, HCV- oder HIV-Infektion nach einer Nadelstichverletzung beträgt insgesamt 33 Prozent.
Die Übertragungswahrscheinlichkeit der jeweiligen Viruserkrankungen liegt bei
HI-Virus: 0,3% (3 von 1000 Fällen)
Hepatitis C-Virus: 3 % (30 von 1000 Fällen)
Hepatitis B-Virus: 30% (300 von 1000 Fällen)
Auch wurden bislang Übertragungen von Erregern durch Tuberkulose, Malaria, oder Syphilis dokumentiert.
Es sei zu erwähnen, dass durch direkte Blut-Blut-Kontakte praktisch alle bekannten Infektionserreger übertragen werden können.
Der Übertragungsweg hängt von der Erregermenge im Blut und der Immunität der verletzen Person ab und kann erleichtert sein, wenn sich eine ausreichende Erregermenge im Blut befindet und eine geschwächte Immunität der verletzen Person vorliegt.
Nach Nadelstichverletzung – Wie vorgehen?
Als Sofortmaßnahme gilt es, nach einer Nadelstichverletzung zu versuchen, die Blutung bei geringem Blutfluss für eine Dauer von 1-2 Minuten zu verstärken bzw. anzuregen, um im Anschluss daran die Verletzungsstelle/ den Stichkanal sorgfältig zu desinfizieren. Es sollte ein Desinfektionsmittel auf Alkoholbasis gewählt werden und mindestens 10 Minuten desinfiziert werden.
Sofern nur eine Kontamination der Haut ohne Verletzung vorliegt ist eine intensive Desinfektion vorgesehen. Bei einer Kontamination der Schleimhäute und/oder der Augen ist eine intensive Spülung mit Wasser oder isotonischer Kochsalzlösung vorzunehmen.
Eine Vorstellung bei einem D-Arzt ist nach einer Nadelstichverletzung erforderlich: sowohl dem Patienten als auch der betroffenen (verletzten) Person ist unverzüglich Blut zu entnehmen und eine Untersuchung der Immunserologie auf Hepatitis B- und C sowie HIV durchzuführen. Hierbei erfolgt die Überprüfung des Impfstatus des „Empfängers“ (betroffene, verletzte Person) und des „Spenders“ (Patient/in).
Wichtig ist, dass das Einverständnis des Patienten (Indexperson) zur Blutabnahme für die Hepatitis- und HIV-Serologie vorliegen muss.
Das Infektionsrisiko für Hepatitis B, C und HIV:
- Unfallart bewerten unter Bezugnahme folgender Kriterien: Zeitpunkt, Verletzungsinstrument, Kontamination, Inkorporation, Schutzmaßnahmen
- Klärung der Infektionswahrscheinlichkeit für Indexperson (Akten, Anamnese, Blutentnahme nach Einverständnis)
- Die Meldung des Arbeitsunfalls an die Berufsgenossenschaft ist durch den Arzt vorzunehmen.
Sofern eine Infektion beim Patienten nachgewiesen werden konnte, sind weitere Maßnahmen zu ergreifen:
HIV-positiv
Wenn der Patient HIV-positiv ist, mit dessen Blut man sich an einem kontaminierten medizinischen Instrument verletzt und gegebenenfalls infiziert hat, ist innerhalb weniger Stunden eine medikamentöse Postexpositionsprophylaxe durchzuführen.
Hepatitis B-Infektion
Bei einer beim Patienten nachgewiesenen Hepatitis B-Infektion richtet sich das weitere Procedere nach dem vorhandenen Impfschutz der betroffenen (verletzten) Person:
- nicht vorhandener Impfschutz: Verabreichung von Hepatitis-B-Immunglobulinen und Durchführung einer Impfung
- niedriger Impftiter: Durchführung einer Impfung
- ausreichender Impftiter: es ist keine Impfung notwendig, da der Verletzte als geschützt gilt
Hepatitis C-Infektion
Gegen das Hepatitis C Virus existiert bisher leider keine Impfung. Trotz allem wird bei einer Verletzung von Hepatitis-C-positiven Material zunächst keine sofortige Postexpositionsprophylaxe empfohlen, sondern in wöchentlichen Zeitabständen mehrmals die Entwicklung von Antikörpern überprüft. Eine medikamentöse Therapie kann gegebenenfalls eingeleitet werden. Mit geeigneten Medikamenten ist die Hepatitis-C-Viruserkrankung innerhalb von 8 bis 12 Wochen heilbar.
Faktoren, die das Risiko einer Nadelstichverletzung beeinflussen
Eine Vielzahl an Faktoren beeinflussen das Risiko einer Nadelstichverletzung und die damit verbundene Gefahr einer Infektion.
Folgende Faktoren, die Einfluss auf das Infektionsrisiko haben, können unter anderem genannt werden:
- Organisatorische Faktoren:
- Organisation der Arbeitsabläufe
- Einsatzbedingungen spitzer/ scharfer Instrumente (Art, Dauer)
- Spezialisierung der Einrichtung/ des Patientenkollektivs
- Krankheitserreger:
- Virulenz
- Überlebensfähigkeit in der Umwelt
- Pathogenität
- Verfügbarkeit eines Impfstoffs
- Patient/in:
- Prävalenz einer Viruserkrankung
- Infektiosität (Infektionspotenzial)
- Personenbezogene Faktoren:
- Immunstatus der betroffenen (verletzten) Person
- Impfstatus der betroffenen (verletzten) Person
- Qualifikation der Beschäftigten
- Einweisung und Übung im Gebrauch der spitzen/scharfen Instrumente
- Technische/ bauliche Faktoren:
- Vorhandensein eines Abwurfbehälters?
- Vorhandensein von Sicherheitsgeräten?
- Art der medizinischen Instrumente (maximale „Übertragungsvolumina“)
- genügend Licht vorhanden?
- genügend Platz vorhanden?
Nadelstichverletzung – Vorbeugung
Die Prävention von Nadelstichverletzungen beinhaltet folgende Maßnahmen: die technische Prävention, die persönliche Prävention und die organisatorische Prävention.
Technische Prävention
Im Hinblick auf die technische Prävention gehören folgende Verhaltensweisen:
- Messer und Kanülen so ablegen bzw. anreichen, dass keine Verletzungsgefahr besteht
- Verwendung sicherer Instrumente (Sicherheitsgeräte)
- Entsorgungen von scharfen Gegenständen nur in entsprechenden, für den Zweck vorgesehene Behältnisse
- Kochsalz- oder Ringerlösungsflaschen aus Plastik bieten keinen ausreichenden Schutz (d.h. nicht in Erwägung ziehen, in eine leere Flasche gebrauchte Nadeln zu entsorgen und die Flasche mit dem Deckel zu verschließen)
- Handschuhe tragen! (durch Penetration des Handschuhs können bis zu 80 Prozent des erregerhaltigen Materials abgestreift werden)
- Festlegung sicherer Arbeitsabläufe
- Durchführung von Schulungen zum Umgang mit Sicherheitsgeräten
- Tragen von Schutzkleidung
- Persönliche Prävention
Im Rahmen der persönlichen Prävention ist es wichtig, dass auf einen ausreichenden Hepatitis-B Schutz geachtet wird und im Falle einer erfolgten Stich- oder Schnittverletzung die Wunde für kurze Zeit den Blutfluss der Wunde zu verstärken und sorgfältig zu desinfizieren.
Organisatorische Prävention
Verletzungen auf der Arbeitsstelle sind immer schriftlich zu dokumentieren und gegebenenfalls auch fotographisch festzuhalten. Darüber hinaus muss nach einem Arbeitsunfall ein sogenannter D-Bericht, ein Durchgangsarzt-Bericht, angelegt werden.
Nadelstichverletzungen sind immer meldepflichtig und werden in einem Verbandbuch dokumentiert. Nach einer Nadelstichverletzung erfolgt die Kontrolle auf Hepatitis B- und C und HIV durch Blutentnahme.
Bei bekanntem Infektionsstatus des Patienten (Hepatitis B, C oder HIV) und Nadelstichverletzung durch das medizinische Personal wird unter Umständen eine Postexpositionsprophylaxe eingeleitet und eine Medikamentengabe ist erforderlich.
Erneute Blutkontrollen sind je nach Risikobewertung in angemessenen Zeitabständen durchzuführen, damit eine medizinische Nachsorge gewährleistet werden kann.
Fazit
Nadelstichverletzungen bedeuten für Betroffene ein erhebliches Infektionsrisiko und sollten nicht unterschätzt werden. Präventive Maßnahmen und die konsequente und fachgerechte Anwendung sicherer Instrumente sowie regelmäßige Schulungen und Aufklärungen können unter anderem dazu beitragen, das Risiko von Nadelstichverletzungen zu minimieren.
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