Biografiearbeit ist ein wichtiges Element in der Pflege, um bedürfnisorientiert mit den Bewohnerinnen und Bewohnern arbeiten zu können. Sie dient daher beiden Seiten – sowohl den Patientinnen und Patienten als auch den Pflegekräften. Biografiearbeit ist nicht der Lebenslauf, der über öffentliche Daten Auskunft gibt, die überprüfbar sind, sondern die individuelle Lebensgeschichte mit all den Erfahrungen, Erlebnissen und Gefühlen. Dafür braucht es Zeit, Verständnis, Empathie und Vertrauen. Welchen Nutzen sie hat, welche Methoden es dabei gibt und was Pflegekräfte dabei beachten sollten – ein Überblick.
Biografiearbeit – Definition
Bei der Biografiearbeit handelt es sich um das Teilen der Lebensgeschichte, die einen Einblick in die Vergangenheit, die Erfahrungen und Erlebnisse der Bewohnerinnen und Bewohner im Pflegeheim ermöglicht. So kommt zum Ausdruck, was diese zu einer bestimmten Zeit empfunden und wahrgenommen haben und wie sie sich heute dadurch fühlen und denken, welche Ansichten, Ängste, Sorgen, aber auch welche Bedürfnisse sie haben.
Biografiearbeit ist also nicht wie ein Lebenslauf, der sich vorrangig mit der schulischen und beruflichen Laufbahn befasst. Sie beschäftigt sich ausführlich mit den verschiedenen Etappen im Leben der Bewohnerinnen und Bewohner und geht deutlich mehr ins Detail. Von der Kindheit und Jugend, der Schulzeit über Beziehungen, Wohnorte, Erkrankungen bis hin zu Trennungen und Verlusten wird alles abgedeckt, solange die Bewohnerinnen und Bewohner darüber sprechen wollen. Dadurch bleibt der Fokus immer auf der Sicht der erzählenden Person und wie sie ihre eigenen Erlebnisse jetzt wahrnimmt und damals wahrgenommen hat.
Die Biografiearbeit beinhaltet nicht nur das Erinnern von sehr weit zurückliegenden Ereignissen, sondern gibt auch ganz aktuelle Auskünfte über Interessen und Vorlieben, Lieblingsessen, Lieblingsmusik, wo sich Bewohner innerhalb der Einrichtung gerne aufhalten, womit sie sich gerne beschäftigen sowie auch grundlegende Dinge, die ihnen beispielsweise in der Pflege wichtig sind. Vielleicht legen sie immer noch viel Wert auf Friseurbesuche, weil es ihnen ein gutes Gefühl gibt, weiterhin auf sich zu achten. So erfährt man mehr darüber, welche Abneigungen es gibt, aber auch welche Wünsche und Ziele sie haben.
Biografiearbeit – Nutzen und Ziele
Biografiearbeit braucht man, um die Individualität von Pflegeheimbewohnerinnen und bewohnern anzuerkennen und um als Pflegefachkraft verständnisvoll mit ihnen zu arbeiten. Für beide Seiten, sowohl Patientinnen und Patienten sowie Altenpflegerinnen und -pfleger, ist Biografiearbeit von großer Bedeutung und bringt Vorteile.
Mit der Biografiearbeit schafft man eine Vertrauensebene und einen besseren Zugang zu den Bewohnerinnen und Bewohnern. Man baut eine Verbindung auf und stärkt die Beziehung. Individuelle Erfahrungen prägen Menschen und sorgen für gewisse Verhaltensmuster, die andere zunächst nicht verstehen und nachvollziehen können. Biografiearbeit hilft außerdem dabei, die Toleranz gegenüber anderem Denken, Handeln und Empfinden zu steigern. Außerdem können Pflegekräfte über Biografiearbeit auch vergessene Ressourcen und Interessen wieder bei den Bewohnerinnen und Bewohnern wecken, die während der Gespräche und des Erinnerns aktiviert werden.
Vorteile für Bewohnerinnen und Bewohner
Biografiearbeit und das Teilen der eigenen Lebensgeschichte hilft den Bewohnerinnen und Bewohnern eines Pflegeheims dabei, über schwere Situationen und Erfahrungen zu sprechen. Aber auch schöne und positive Erinnerungen kann man damit wieder ins Gedächtnis rufen. Zwischenmenschliche Verbindungen werden gestärkt und sie bekommen Raum und Zeit, um über ihre Gefühle und Wahrnehmungen zu sprechen – etwas, was sie vielleicht noch nicht oft gemacht haben und konnten. Sie fühlen sich dadurch stärker wahr- und ernstgenommen. Das stärk wiederum das Selbstvertrauen, die Lebensqualität und die Lebensfreude.
Biografiearbeit – Voraussetzungen
Vertrauen und Empathie sind die beiden wichtigsten Grundvoraussetzungen bei der Biografiearbeit. Es muss also zunächst eine Vertrauensbasis zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern und den Pflegekräften existieren, bzw. erst aufgebaut werdem. Biografiearbeit und das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte sind immer mit Gefühlen und individuellen Wahrnehmungen verbunden. Es braucht also Mitgefühl, Interesse und die Bereitschaft der Pflegekräfte, für das Erzählte und die gezeigten Gefühle empfänglich zu sein.
Es sollten auch gewisse Rahmenbedingungen für ein gutes Gespräch vorherrschen. Ein ungestörter Raum schafft meist eine angenehme Atmosphäre, in der sich Bewohnerinnen und Bewohner wohlfühlen und bereit sind, sich zu öffnen. Unvorteilhaft ist es hingegen, den Bewohnerinnen und Bewohnern beispielsweise mitten im Speiseraum intime Fragen zu stellen oder beiläufig auf dem Flur etwas in Erfahrung zu bringen. Damit Erinnerungen geweckt werden und in Ruhe über Erfahrungen gesprochen werden kann, braucht es Zeit. Für ein Biografiegespräch sollte daher ausreichend davon eingeplant werden.
Methoden der Biografiearbeit
Wie kann man Erinnerung fördern? Es gibt einige Methoden, die dabei behilflich sind – ob spielerisch, kreativ oder auch erzählerisch – Verborgenes und Zurückliegendes in Erfahrung zu bringen.
Vertraute Gegenstände aus vergangener Zeit nutzen
Bei der Biografiearbeit und dem Erinnern kann es helfen, Sinne zu wecken – durch Geschmack, Geruch, Klang, sehen und tasten. Dazu können alte Gegenstände aus früherer Zeit genutzt werden, um Erlebnisse und Emotionen wieder ins Gedächtnis zu bringen. Das fördert auch das lebhafte Erzählen und man sitzt sich nicht nur starr gegenüber. Diese Art der Herangehensweise kann auch während der Pflege mit eingebunden werden.
Einzelgespräche
In Einzelgesprächen kann man sich genügend Zeit nehmen, um tiefer auf individuelle Ereignisse der jeweiligen Person einzugehen. Über offene Fragen oder auch nur einzelne Stichworte und das Ansehen alter persönlicher Fotos kann sich ein flüssiges Gespräch ergeben, in dem der Bewohner oder die Bewohnerin frei erzählt. In verschiedenen Gesprächen kann man auch herausfinden, ob sich Erzähltes und Erlebtes je nach Stimmung verändern.
Gruppenarbeit
Gruppengespräche eignen sich gut dafür, um allgemeine Reaktionen von Bewohnerinnen und Bewohnern wie auch das Verhalten untereinander zu analysieren. Durch das Schlüpfen in andere Rollen (z.B. Seniorentheater) oder auch das Erfragen von Berufswünschen können kreative Erinnerungen und auch verborgene Talente oder Sehnsüchte geweckt werden. Ebenfalls bringen Musik, Geräusche und Bewegung Vergessenes wieder ins Gedächtnis – darüber kann man sich lebhaft in der Gruppe austauschen.
Die visuelle Arbeit durch Fotos, Bücher oder auch alte Stadtkarten und Zeitungen sowie Basteln und Malen ist ebenfalls förderlich für die Biografiearbeit. Diese alten oder selbstgebastelten Dinge können im Anschluss weiterhin so platziert werden, dass sie Erinnerungen wachhalten.
Es gibt aber natürlich auch Menschen, die sehr verschlossen sind und nichts erzählen möchten. Da können manchmal auch therapeutische Hilfsmittel, wie z.B eine Puppe zum Einsatz kommen und das Eis brechen. Dabei müssen Pflegekräfte dann auch oft gar nicht so viel fragen, sondern einfach beobachten und zuhören, wie die Bewohnerinnen und Bewohner mit dieser Puppe umgehen. Schon dadurch erhält man viele Informationen über jemanden.
Besonders wichtig ist aber, dass niemand zum Erzählen gedrängt werden sollte. Biografiearbeit ist eine freiwillige Angelegenheit. Wenn man Patientinnen oder Patienten Informationen über ihr Leben abnötigt, kann das das Vertrauen in die Pflegefachkraft enorm schwächen.
Formen der Biografiearbeit
Zur Erfassung der Biografie eines Menschen gibt es mehrere Möglichkeiten. Je nachdem, womit sich Bewohnerinnen und Bewohner wohler fühlen, können sie aus folgenden Formen wählen.
Erzählform
Hierbei handelt es sich um eine mündliche Wiedergabe der biografischen Erlebnisse und Erfahrungen. Sie regt die Kommunikation an und lässt Raum, damit sich Gespräche entwickeln.
Verschriftlichung
Schreiben kann eine heilende und lösende Form sein, um Erlebtes zu verarbeiten. Gleichzeitig ist die Verschriftlichung eine Möglichkeit, der Nachwelt etwas zu hinterlassen. Besonders wenn Bewohnerinnen und Bewohnern die Kommunikation über gewisse Themen schwerfällt, kann das Aufschreiben eine angenehme Form der Biografiearbeit sein.
Akustischer Ausdruck
Bei Bewohnerinnen und Bewohnern, die nicht in einem direkten Gespräch über ihre Erfahrungen reden möchten und diese auch nicht aufschreiben wollen oder können, kann der akustische Ausdruck in Form einer Tonbandaufnahme als Form der Biografiearbeit dienen.
Biografiearbeit – Das sollten Pflegekräfte beachten
Nicht nur das Gespräch ist wichtig, auch die Vorbereitung und die Auswahl der Fragen. Es ist ratsam, lieber offene Fragen zu stellen und den Bewohnerinnen und Bewohnern damit Raum zu geben, etwas mehr zu erzählen. Daraus entsteht dann meist ein flüssigeres Gespräch. Pflegekräfte sollten daher Vorinformationen sammeln, bevor sie sich zu einem Gespräch zusammensetzen. Diese können bei Ärzten, Angehörigen und Kollegen erfragt werden. Auch das richtige Timing ist für ein vertrauensvolles Gespräch wichtig. Einige Tage vorher sollte man als Pflegekraft die Absicht zum Gespräch ankündigen, damit sich auch das Gegenüber darauf vorbereiten kann.
Während der Gespräche ist es außerdem ratsam, auf die folgenden Punkte zu achten.
Gut zuhören und verstehen lernen
Wichtig ist das aufmerksame Zuhören und das Zeigen von Interesse an der Person und deren Geschichte. Am besten unterbricht man den Erzähler oder die Erzählerin nicht, sondern lässt ihm oder ihr den Raum, sich zu öffnen. Auf Bewertungen jeglicher Art sollte generell verzichtet werden. Wenn man kommentiert, sollte das möglichst wertfrei sein. Die Gefühle der Bewohnerinnen und Bewohner sollten ernst genommen und verstanden werden. Es ist wichtig, mit Offenheit und Einfühlsamkeit in die Gespräche hineinzugehen, denn Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner haben oftmals andere Zeiten erlebt, andere Erfahrungen gemacht und sind andere Wege gegangen als man selbst.
Während des Zuhörens sollten sich Pflegekräfte Notizen machen, damit sie keine Details der Biografie vergessen.
Aufmerksam sein
Es kann auch passieren, dass Bewohnerinnen und Bewohner im Pflegealltag Bezug auf ihr Leben nehmen und dabei etwas aus ihrer Vergangenheit erzählen und berichten. In diesen Situationen können Pflegekräfte spontan nachfragen und so biografisch Wichtiges erfahren.
Die Biografiearbeit sollte sich außerdem nicht wie ein Verhör anfühlen. Mit schweren Themen und schmerzhaften Erfahrungen (Kriege, Scheidung, Tod) sollte man sehr einfühlsam und sensibel umgehen und darauf achten, wie sehr es den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin emotional mitnimmt. Es kann nämlich auch passieren, dass gewisse Erinnerungen etwas in ihnen auslösen, das möglicherweise negative Reaktionen zur Folge hat.
Besonders bei alten Frauen, die beispielsweise zu Kriegszeiten Schlimmes erlebt haben – Übergriffe, Missbrauch, Gewalt – kann das Erinnern daran negative Gefühle wecken. Pflegekräfte müssen da sehr behutsam und langsam vorgehen und auch erkennen, wann man lieber nicht vertiefen sollte, weil das zu viel Stress verursacht.
Nach einem Biografiegespräch können Bewohnerinnen und Bewohner daher manchmal auch nicht einfach wieder in den Alltag übergehen. Auch da sollten Pflegekräfte aufmerksam sein und erfragen, was der Bewohner oder die Bewohnerin im Anschluss an das Gespräch gerne machen möchte.
Weitergabe von Informationen
Damit es keinen Vertrauensbruch gibt, sollten Pflegekräfte mit den Bewohnern/Bewohnerinnen und ihren Angehörigen besprechen, welche Informationen in die Patientenakte kommen. Darauf hätte dann das gesamte Pflegeteam Zugriff. Gewisse Daten sind für die Pflege zwar wesentlich und wichtig, aber auch darüber sollte man sich vorab eine Erlaubnis einholen.
Grenzen wahren
Auch ist es notwendig, langsam und etappenweise an die Biografiearbeit heranzugehen. Fühlen sich Bewohnerinnen und Bewohner dabei nicht wohl oder verschließen sich komplett, sollten Pflegekräfte lieber abbrechen und nicht quälend nachfragen. Somit verliert man das Vertrauen nicht und die Möglichkeit für kommende Gespräche bleibt bestehen.
Ebenso darf und muss man als Pflegekraft und Zuhörer auch auf die eigene Gesundheit und persönliche Grenzen achten. Viele Geschichten können sehr traurig und bedrückend sein. Da bedarf es einer regelmäßigen Selbstreflektion: Wie hat man das Gespräch wahrgenommen, kommt man selbst gut mit dem Erzählten und den Gefühlen klar oder belastet es einen? Es ist wichtig, diese Geschichten nicht mit in das eigene Leben zu nehmen.
Wenn Demenzkranke nicht mehr sprechen können
Bei Demenzkranken kann es schwer sein, von ihnen Dinge über deren Biografie zu erfahren. In so einem Fall müssen sich Pflegekräfte vermehrt Auskünfte von Angehörigen, Verwandten, Freunden und Bekannten (sofern noch vorhanden) geben lassen. Es sei aber gesagt, dass es in diesen Fällen dann sein kann, dass die Erzählungen durch die Ansichten und Empfindungen dieser Personen verfälscht werden. So kann man sich der Biografie einer Person also nur annähern. Dennoch benötigen Pflegekräfte einige Informationen zu den Gewohnheiten und Vorlieben der Bewohnerinnen und Bewohner, um den Pflegeprozess zu erleichtern.
Allgemein lässt sich bei Demenzkranken aber auch die Arbeit mit Gegenständen vergangener Zeiten gut anwenden sowie das Einbeziehen der Sinne – durch Musik, Klänge, Berührungen, Geruch und Geschmack lässt sich auch hier manch Verborgenes vielleicht zurückholen. Ebenfalls über spezielle Schlüsselwörter und Bilder kann der Erinnerungsprozess aufrecht erhalten werden. Diese können dann beispielsweise in einem Erinnerungsalbum gesammelt und immer griffbereit sein.
Passende Stellenangebote für Pflegekräfte
Wer auf der Suche nach einem passenden Stellenangebot für Pflegekräfte ist, findet bei Medi-Karriere eine breite Auswahl – zum Beispiel Jobs für Gesundheits- und Krankenpfleger/innen sowie Altenpfleger/innen-Stellenangebote.
1. www.renafan.de/biografiearbeit (Abrufdatum: 06.02.2022)
2. www.altenpflegeschueler.de/sonstige/biographie-2/ (Abrufdatum: 06.02.2022)
3. www.curendo.de/pflege/so-funktioniert-die-biografiearbeit/ (Abrufdatum: 06.02.2022)
4. Biografiearbeit, www.ppm-online.org (Abrufdatum: 06.02.2022)