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Der Begriff Kinästhetik bezeichnet die Lehre von der Bewegungsempfindung. Im pflegerischen Bereich dient die Kinästhetik als Bewegungsunterstützung immobiler pflegebedürftiger Menschen. Pflegekräften vereinfacht sie die tägliche Arbeit. Wie sich die Kinästhetik in den Berufsalltag von Pflegekräften implementieren lässt und welche Vorteile kinästhetisches Arbeiten bietet, ist dem folgenden Beitrag zu entnehmen. Wissenswertes zum Thema Kinästhetik in der Pflege.
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Kinästhetik in der Pflege – Definition
Der Begriff Kinästhetik, die Lehre von der Bewegungsempfindung – setzt sich aus den zwei altgriechischen Wörtern kineō (übersetzt: bewegen, sich bewegen) und aisthēsis (übersetzt Wahrnehmung, Erfahrung) zusammen. Kinästhetik hat zum Ziel, die Bewegungen der einzelnen Körperteile unbewusst zu steuern und zu kontrollieren. Es geht also vor allem um Bewegungsförderung. Die Kinästhetik ist ein Handlungskonzept, mit der die Bewegung von Patienten/-innen während der alltäglichen Aktivitäten in der Pflege schonend unterstützt wird. Dabei bleibt gleichzeitig die Arbeitsergonomie der Pflegekräfte erhalten.
Hierbei ist die Absicht, dass die zu pflegende Person aktiv an der Pflege teilnimmt, anstatt sich passiv behandeln zu lassen. Zur Motivationssteigerung tragen die bedeutsamen Schlüsselfaktoren Kommunikation, intensive Auseinandersetzung sowie Berührung bei. Die Kinästhetik wird vor allem in der Alten-, Gesundheits-, Kranken- und Behindertenpflege eingesetzt. Man versteht hierunter die Hilfe zur Selbsthilfe.
Kinästhetik in der Pflege – Ziele
Die Kinästhetik ist eine Arbeitsweise, die in sehr vielen Anwendungen sowohl den pflegebedürftigen Menschen als auch den Pflegekräften eine Erleichterung bietet: Indem die Bewegungsressourcen erkannt werden, kann man die Bewegung der zu Pflegenden fördern und Muskel-und Skeletterkrankungen (z.B. Rückenbeschwerden) der Pflegekräfte mindern bzw. ihnen vorbeugen. Durch die Kinästhetik können Pflegekräfte also belastende, ruckartige Bewegungen vermeiden.
Die Pflegebedürftigen haben bei jeder Bewegung Selbstkontrolle über das Geschehen und können diese nachvollziehen (Bewegungserfahrung), wodurch sie wieder den eigenen Körper wahrnehmen und aktiv spüren, anstatt passiv geschehen zu lassen (kein Tragen, kein Heben). Dies führt insgesamt zur Erleichterung der Mobilisation und hat Einfluss auf die Verbesserung der Gesundheit.
Zu den Zielen der Kinästhetik gehören unter anderem:
- Erleichterung der Mobilisation von Menschen: sichere, angstfreie und schmerzfreie Mobilisation ohne Heben und Tragen
- Erkennen von Bewegungsressourcen und Förderung dieser zum Erwerb neuer notwendiger Bewegungsmuster
- Nutzung der Ressourcen der Patienten/-innen (Aufstehen, Essen, Sitzen oder Bewegungen im Bett)/Ausschöpfen der Bewegungsmöglichkeiten
- Förderung und Unterstützung der weitestgehenden Selbstständigkeit der Patienten/-innen/Animierung zur Eigeninitiative
- Förderung der Gesundheit: erhalten und erweitern der persönlichen Bewegungskompetenz, sodass sich die Pflegebedürftigen gebraucht fühlen
- Arbeitsergonomie für Pflegekräfte: erhalten der körperlichen Gesundheit (Prävention von Rückenleiden)
- Steigerung der Effektivität in der Pflege
- Zufriedenheit und Motivation der Mitarbeiter/innen in der Pflege
Kinästhetik in der Pflege – Konzepte
Die Kinästhetik in der Pflege umfasst sechs Konzepte, die gemeinsam ein Kinästhetik-Konzeptsystem bilden. Die Konzepte, die im Arbeitsalltag berücksichtigt und umgesetzt werden, sind: Kommunikation und Interaktion, Funktionale Anatomie, Menschliche Bewegung, Anstrengung, Menschliche Funktion und Angepasste Umgebung. Jedes einzelne Konzept betrachtet Bewegung aus einem anderen Blickwinkel, sodass schrittweise auf die Bedürfnisse des/der Einzelnen eingegangen werden können. Im Folgenden werden die einzelnen Konzepte näher erläutert.
Konzepte der Kinästhetik
In der Kinästhetik unterscheidet man zwischen sechs sogenannten Konzepten, die Pflegekräften dabei helfen, die Bewegungsabläufe von Patienten/-innen zu beurteilen und ihnen entsprechend zu helfen.
Konzept Kommunikation und Interaktion
Die Kommunikation und Interaktion sind wichtige Schlüsselfaktoren in der Pflege: Es kommt zu einem kontinuierlichen und effektiven Austausch von Bewegungsinformation zwischen allen Beteiligten. Das Kinästhetik-Konzept Kommunikation und Interaktion ermöglicht das Erlernen von Bewegungen. Hierbei wird eine Bewegungsanleitende Sprache verwendet, so zum Beispiel der Satz: „Ich unterstütze Sie, an den Bettrand und ins Sitzen zu kommen“, anstatt: „Ich nehme Sie jetzt an den Bettrand.“
Konzept Funktionale Anatomie
Das Konzept Funktionale Anatomie hinterfragt, ob der/die Pflegebedürftige durch die Anleitung der Pflegekraft seinen/ihren Körper bewusster erfahren kann. Es geht außerdem darum herauszufinden, ob es möglich ist, die eigenen Bewegungsressourcen besser auszuschöpfen.
Konzept Menschliche Bewegung
Das Konzept Menschliche Bewegung überprüft, ob die Anleitung dem/der Pflegebedürftigen hilft, die Bewegungsmuster so auszuführen, dass die Anstrengung gering bleibt. Somit ist es möglich, dass Pflegefachkräfte ihre Patienten/-innen entsprechend fördern können, ohne sie zu überlasten.
Konzept Anstrengung
Das Konzept Anstrengung überprüft, ob es dem/der Pflegebedürftigen gelingt, durch Unterstützung, den eigenen Körper zu koordinieren und ob die Anstrengung (Zug und Druck) gelingt.
Konzept Menschliche Funktion
Das Konzept Menschliche Funktion stellt ein Ordnungssystem dar: Einfache Funktionen, die als Grundpositionen bezeichnet werden, und komplexe Funktionen werden hier beschrieben. Bei den einfachen Funktionen/Grundpositionen geht es darum, eine Position einnehmen und halten zu können. In der Kinästhetik werden 7 Grundpositionen beschrieben:
- Rückenlage
- Ellenbogen-Bauch-Lage
- Sitzen
- Vierfüßlerstand
- Einbein-Kniestand
- Auf einem Bein stehen
- Auf zwei Beinen stehen
Mit Hilfe dieser genannten Grundpositionen erlernen Kleinkinder das Aufstehen. Sofern pflegebedürftige Personen wieder das Aufstehen erlernen müssen, stellen diese Grundpositionen eine Hilfestellung dar. Zu den komplexen Funktionen gehören Fortbewegungen und Bewegungen am Ort. So wird beispielsweise eine Fortbewegung ausgeführt, wenn sich das Gewicht der Massen an einen neuen Ort verlagert, wie beim Gehen.
Konzept Umgebung
Die Umgebung umfasst alles, was für das Durchführen der entsprechenden Funktion wichtig ist. Das Konzept überprüft, ob die Umgebung hierfür geeignet ist. Es gilt, diese sicher und einfach zu gestalten und die Ressourcen der pflegebedürftigen Person mit einzubeziehen. Auch der Einsatz von Hilfsmitteln ist hier zu empfehlen.
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Kinästhetik Pflege – Übungen und Praxisbeispiele
Damit das Konzept der Kinästhetik gelingen kann, ist es wichtig, dass die Pflegekräfte in der klinischen Anwendung darauf achten, die Prinzipien der Kinästhetik zu berücksichtigen.
Die Prinzipien sind:
- Massen fassen – Zwischenräume spielen lassen
- Zwischenräume – Nicht dort anfassen
Hierzu zählt, dass die Pflegebedürftigen nicht an Zwischenräume, wie beispielsweise die Achselhöhlen fassen. Der Grund hierfür ist, dass Bewegungsmöglichkeiten unter Umständen blockiert werden können, sodass die zu pflegende Person keinen aktiven Part übernehmen kann und nicht mitwirken kann (keine Aktivierung der eigenen Bewegungsmöglichkeiten). Die Pflegekräfte sollten die zu Pflegenden stattdessen an den sogenannten Massen, nämlich Thorax Becken, Ober- und Unterarme, Ober- und Unterschenkel anfassen. Dadurch lassen sich Zug- und Druckkrämpfe zunutze machen und Hebel- und Tragekräfte können vermieden werden.
Die Umsetzung der Kinästhetik ist nur möglich, wenn ein Vertrauen zwischen den Pflegebedürftigen und den Pflegekräften geschaffen wird. Durch das Bewegungs- und Berührungskonzept der Kinästhetik kommen sich die Interaktionspartner/innen nahe und eine Beziehung kann aufgebaut werden. An dieser Stelle gilt es, herauszufinden, wie viel Nähe oder Distanz erwünscht ist.
Sofern eine Partei dies als zu viel Nähe betrachtet, sollte man dies respektieren. Alle kinästhetischen Techniken muss man in einer Schulung absolvieren und sollten insbesondere am Anfang der Durchführung nicht ohne Aufsicht erfolgen. Kinästhetik-Kurse kann man beispielsweise bei vielen Arbeitgebern absolvieren.
Zwei Praxisbeispiele aus dem Arbeitsalltag beschreiben die folgenden beiden Abschnitte.
Unterstützung beim Gehen
Damit das Gehen kinästhetisch unterstützt werden kann, ist es zunächst bedeutsam, die Bewegungsrichtung mit der Person abzusprechen. Als Pflegekraft steht man entweder seitlich neben der pflegebedürftigen Person oder frontal ihr gegenüber und hält dabei die Hand. Zusätzlich kann man auch den Unterarm als Stütze anbieten. Die Bewegungsgeschwindigkeit ist individuell unterschiedlich, daher sollte man sie entsprechend anpassen.
Mobilisation vom Stuhl ins Bett
Damit die Mobilisation von einem Stuhl ins Bett gelingt ohne dabei unnötig Kraftaufwand zu betreiben, sollte man den Stuhl so nah wie möglich an das Bett stellen und auf Höhe des Kopfkissens platzieren. Im Anschluss daran legt die pflegebedürftige Person ihre Arme über die Schultern der Pflegekraft. Die Pflegekraft geht in die Knie und unterstützt die pflegebedürftige Person beim Aufstehen. Für einen kurzen Moment kann die pflegebedürftige Person ihr Eigengewicht spüren, bevor die Mobilisation in Bett durch eine Drehung auf die Bettkante erfolgt.
Kinästhetik – Infant Handling
Das Bewegungskonzept der Kinästhetik existiert auch in der Neonatologie und Pädiatrie. Hier ein kurzer Einblick: In Bezug auf Babys spricht man von Kinästhetik Infant Handling oder umgangssprachlich auch Baby Handling genannt. Diese stellt eine weit verbreitete Technik vor allem bei früh- oder krankgeborenen Kindern dar, aber auch gesunde Babys profitieren vom Infant Handling.
Hier unterstützen Pflegekräfte und Eltern die Babys in alltäglichen Aktivitäten, beispielsweise Atmen, Schlafen, Trinken, Essen, Ausscheiden, Einnehmen einer Position oder bei der Fortbewegung, indem sie dabei helfen, dass das Baby die eigene Bewegung findet. Man fördert den Lernprozess, indem man dem Kind die Möglichkeit gibt, Bewegung zu erlernen, Bewegung zu erfahren, die eigenen Muskeln zu stärken und das eigene Gewicht in der Schwerkraft zu koordinieren.
Expertenstandard zur Mobilisation in der Pflege
Für professionelle Pflegekräfte gibt es seit 2020 einen Expertenstandard „Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege“, welcher sich an an Pflegefachkräfte und Einrichtungen in der ambulanten, teilstationären und stationären Pflege richtet. Mobilisation wird darin beschrieben als ein wesentlicher Baustein der körperlichen und seelischen Gesundheitsförderung und bietet laut Expertenstandard für die pflegebedürftige Person unter anderem folgende Vorteile:
- Bessere Durchblutung des Gewebes durch die Bewegung (Entgegenwirken von Druckstellen und Hautreizungen)
- Reduktion der Risiken von Bewegungseinschränkungen, Dekubitus, Thrombose etc.
- zunehmende Beweglichkeit durch Mobilisationsübungen
- bessere Belüftung der Lunge durch Positionsänderungen
- Verbesserung des Herz-Kreislauf-Systems und Vorbeugung von Kreislaufproblemen
- das subjektive Krankheitsgefühl nimmt ab und die empfundene Lebensqualität nimmt zu
Der Expertenstandard ist ein wertvolles Tool in der Pflege – Pflegekräfte sollten ihn kennen.
Passende Stellenangebote für Pflegekräfte
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Häufige Fragen
- Was ist Kinästhetik?
- Wo wird Kinästhetik angewendet?
- Warum ist Kinästhetik wichtig?
- Was ist Infant Handling?
Der Begriff Kinästhetik ist die Lehre von der Bewegungsempfindung und setzt sich aus den zwei altgriechischen Wörtern kineō (übersetzt bewegen, sich bewegen) und aisthēsis (übersetzt Wahrnehmung, Erfahrung) zusammen.Im pflegerischen Bereich dient die Kinästhetik als Bewegungsunterstützung immobiler pflegebedürftiger Menschen mit dem Ziel, die Bewegungen der einzelnen Körperteile unbewusst zu steuern und zu kontrollieren. Zudem bietet die Kinästhetik auch den Pflegekräften eine Erleichterung: Muskel-und Skeletterkrankungen (z.B. Rückenbeschwerden) der Pflegekräfte können gemindert bzw. vorgebeugt werden, da belastende, ruckartige Bewegungen vermieden werden.
Das Konzept der Kinästhetik wird vor allen in der Alten-, Gesundheits-, Kranken- und Behindertenpflege eingesetzt. Man versteht hierunter die Hilfe zur Selbsthilfe. Auch in der Neonatologie und Pädiatrie kommt die Kinästhetik zum Einsatz.
Durch die Kinästhetik kann die Bewegungsfreiheit und Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen verbessert werden, indem man ihre Bewegungen während der Pflege bewusst wahrnimmt und aktiv daran mitwirkt. Die Mobilisation wird erleichtert, ohne dass sie dabei passiv gehoben oder getragen werden müssen.
Das Bewegungskonzept der Kinästhetik existiert auch in der Neonatologie und Pädiatrie. Pflegekräfte und Eltern unterstützen die Babys in alltäglichen Aktivitäten, indem sie dabei helfen, dass das Baby die eigene Bewegung findet. Der Lernprozess wird gefördert, indem die Möglichkeit gegeben wird, Bewegung zu erlernen, Bewegung zu erfahren, die eigenen Muskeln zu stärken und das eigene Gewicht in der Schwerkraft zu koordinieren.
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