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Gender Pain Gap und Gender Health Gap – trotz gesetzlicher Vorgaben und Forschung finden sich in unserer Gesellschaft große Lücken zwischen der gerechten medizinischen Versorgung von Patientinnen und Patienten. Frauen glaubt man seltener, ihre Schmerzen schätzt man als weniger “ernst” ein, chronische Schmerzen behandelt man seltener.
Aber wieso eigentlich? Einen Überblick zum Hintergrund der Gender Pain Gap, ihren Konsequenzen und aktuellen Entwicklungen gibt dieser Artikel.
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Gender Pain Gap – Definition
Die Gender Pain Gap bezeichnet die geschlechtsspezifische Ungleichheit in der Wahrnehmung, Diagnose und Behandlung von Schmerzen. Weiblich gelesene und biologisch weibliche Personen erleben oft eine Verzögerung in der medizinischen Versorgung, da ihre Schmerzen systematisch unterschätzt oder nicht ernst genommen werden.
Gender Pain Gap – Ursprünge
Die Gender Pain Gap ist ein multifaktorielles Problem. Während der Begriff „Gender“ entsprechend seiner Bedeutung im Englischen erstmal auf die sozialen Komponenten des Problems hinweist, liegt der Ursprung unter anderem auch in der Biologie. So haben Frauen beispielsweise eine andere Art der Schmerzverarbeitung. Diese hängt bei ihnen etwa viel stärker von Hormonen ab als bei ihren männlichen Mitmenschen.
Das Narrativ der hysterischen Frau
„Hysterie“ beschreibt in der Psychologie und Psychiatrie im Groben Störungen mit gesteigerter Selbstdarstellung, Theatralik und Dramatisierung. Dieser eher abwertende Begriff für verschiedenste Persönlichkeitsstörungen wurde tatsächlich erst mit dem ICD-10 – der Version der internationalen Klassifikation für Erkrankungen von 1994 – ersetzt. Heute bezeichnen Klassifikationen die Krankheiten konkreter.
Was das mit der Gender Pain Gap zu tun hat zeigt sich, wenn man den Ursprung des Wortes weiter ergründet: Hysterie ist eine Ableitung des Wortes „hystéra“, dem griechischen Begriff für den Uterus (Gebärmutter). Sie wurde schon in der Antike beschrieben, wobei man(n) die Hysterie auf den Uterus zurückführte, der „im Körper herumirrt“ wenn sein Begehren der „Kindererzeugung“ nicht erfüllt wird.
Diesen Ansatz verfolgten Gelehrte bis in 18. Jahrhundert. Zu diesem Irrglauben trugen das Unwissen über die weibliche Sexualität, der Glaube an Verbundenheit von Melancholie (heute eher als Depression oder depressive Verstimmung bezeichnet) mit dämonischen Kräften und die Sündenbocksuche im Rahmen der Hexenverfolgung bei.
Erste neurologische Verständnisse kamen im 18. Jahrhundert auf. Im 19. Jahrhundert argumentierte der französische Pathologe und Neurologe Charcot erstmals, dass mehr Männer von der Hysterie betroffen seien als Frauen. Zur gleichen Zeit begründete ein weiterer französischer Neurologe (de la Tourettes), dass die Erkrankung vom Gehirn ausgeht und nicht mit dem Uterus in Verbindung steht.
Dennoch behandelte man Frauen mit „Hysterie“ bis ins 20. Jahrhundert mit Klitorektomien (Entfernung der Klitoris), heterosexuellem Sex, Schwangerschaft und Heirat. Man beschrieb die Hysterie bei Frauen als häufig und chronisch. Auch heute bezeichnet der Begriff „hysterisch“ noch Reaktionen oder Verhaltensweisen von weiblich gelesenen Personen abwertend. Darunter fallen selbstbewusstes Auftreten sowie den Umgang mit Emotionen und auch Schmerz.
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Der Male Gaze in der Medizin
Die medizinische Forschung bezog sich lange Zeit auf den „Durchschnittsmenschen“ – der männlich war. Die aktuelle Forschung versucht, diesen „Male Gaze“ zu bereinigen. Dennoch gehen Symptome, die Patientinnen anders empfinden, im Klinikalltag und sogar in manchen Leitlinien zur Diagnostik noch unter. Neben der klinischen Forschung am Menschen werden auch Tierversuche häufig mit männlichen Tieren durchgeführt. Zyklusabhängiges Schmerzempfinden oder hormonunabhängige Reaktionen auf Medikamente und medizinische Anwendungen sind nach wie vor ein Nischenthema.
Was man selbst gegen den Male Gaze in der Medizin machen kann
Heutzutage basieren viele Forschungsprojekte auf einer absichtlich herbeigeführten gleichmäßigen Verteilung zwischen Probanden und Probandinnen, sogar nach gesetzlicher Vorgabe. Tatsächlich melden sich aber beispielsweise für Medikamentenstudien eher männliche Personen. Wer also geschlechtergerechte Forschung in der Medizin unterstützen möchte, kann sich als Frau beispielsweise einbringen und Studienteilnahmen erwägen.
Übrigens: In der Präventionsforschung ist dieses Phänomen genau umgekehrt und es nehmen mehr weibliche Personen an Studien teil. Hier kann man als potentiell interessierter Proband also durch die Teilnahme genauso zur gendergerechten Forschung beitragen.
Gender Pain Gap – Auswirkungen
Nicht nur in der Theorie wird die Gender Pain Gap zum Problem: er äußert sich auch tagtäglich im medizinischen Alltag. Patientinnen werden seltener ernstgenommen, häufiger falsch behandelt und etwa jede zweite weibliche Person hat sich schonmal aufgrund ihres Geschlechts so gefühlt, als würde ihr Schmerz heruntergespielt oder vollkommen ignoriert werden. Im Zusammenhang mit chronischen Schmerzen (die bei weiblichen Personen häufiger auftreten) betrifft das sogar 90 Prozent. Darüber klärte unter anderem ein Fachartikel von der Wissenschaftlerin Diane Hoffmann und ihrem Team, “The Girl Who Cried Pain: A Bias against Women in the Treatment of Pain“ im Jahr 2001 auf. Sie falsifizierten unter anderem auch den urbanen Mythos, die Schmerztoleranz von weiblichen Personen sei höher als die von männlichen.
Darüber hinaus beschrieben sie die häufigere Verschreibung von Schmerzmitteln an Patienten als an Patientinnen, die häufiger Sedativa (also Beruhigungs- beziehungsweise Schlafmittel) verschrieben bekamen. Insbesondere im Kontext von eben den chronischen Schmerzen ist das problematisch – denn diese verschlechtern sich unter inadäquater Schmerztherapie häufig.
Stereotypen mit Konsequenz
2024 veröffentlichte das Journal „Annals of Internal Medicine“ eine japanische Studie, die die Sterbezahlen von Patienten und Patientinnen untersuchte (30-Tage Mortalität von über 65-Jährigen im klinischen Setting). Diese lag bei der Behandlung durch Ärztinnen für alle niedriger. Besonders fiel auf, dass die Sterblichkeit der Patientinnen 0,2 Prozentpunkten Unterschied signifikant niedriger als bei der Behandlung durch die männlichen Kollegen lag. Dies galt insbesondere für schwerkranke Patientinnen. Generell unterliegen Ärztinnen statistisch weniger Stereotypen (männliche Ärzte erkennen beispielsweise seltener Schlaganfälle bei weiblichen Personen) und nehmen sich 20 Prozent mehr Zeit für ihre Patient(innen), wodurch solche Zahlen mitunter erklärt werden können.
Besonders gynäkologische Beschwerden (klassische „Frauenkrankheiten“) machen die Probleme deutlich: Schmerzen im Zusammenhang mit Zyklus, Menstruation, Sexualität und Geburt werden als „normal“ abgetan. So ist die Dunkelziffer von Endometriose-Patientinnen in Deutschland beispielsweise nach wie vor hoch geschätzt. Schmerzen werden nicht erkannt oder von gynäkologischer Seite richtig eingeordnet.
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Gender Pain Gap – Aktuelle Forschung
Die positive Nachricht ist: In der Forschung hat sich in den letzten Jahren viel zum Ausgleich der Gender Pain Gap getan. Dazu gehören etwa das gleichberechtigte Einbeziehen von Probandinnen in Studien. Auch Forschung zu Veränderungen von Schmerzen und Schmerzempfinden nach der Menopause tragen dazu bei. Zur Einordnung gibt die folgende Tabelle eine kleine Übersicht zu den Entdeckungen im Zusammenhang des weiblichen Schmerzempfindens der letzten Jahre:
Quelle: The Woman Who Cried Pain: Do Sex-Based Disparities Still Exist in the Experience and Treatment of Pain? (2022)
Thema Neue Forschungserkenntnisse Schmerz im Allgemeinen Weibliche Personen erleben häufiger und intensiver Schmerz. Hormoneller Einfluss Östrogen und Testosteron haben unterschiedliche Auswirkungen auf das Schmerzempfinden, dadurch verändert sich Schmerz während des Zyklus, bei Schwangerschaft und nach der Menopause. Neurochemischer Einfluss Bestimmte Botenstoffe zur Schmerzverarbeitung beeinflussen das weibliche Nervensystem anders als das männliche. Beispielsweise löst das Protein CGRP Migräne nur bei weiblichen Mäusen aus. Immunsystem Das weibliche Immunsystem reagiert anders auf Schmerz, was vor allem bei neuropathischen Schmerzen zu anderen Mechanismen führen kann. Gehirnstruktur Bei chronischem Schmerz verändert sich das Gehirn. Es könnte sein, dass diese neue Struktur im weiblichen Gehirn anders ist als im männlichen. Schmerzmittel Der weibliche Körper erfährt unter Schmerzmitteln (Opioide) eine stärkere Schmerzhemmung, aber auch mehr und schwerere Nebenwirkungen. Der Noceboeffekt scheint besonders ausgeprägt.
Ausblick
Viele Menschen arbeiten in der Medizin daran, die Versorgung von Frauen besser zu machen und Stereotypen entgegenzuwirken. Dafür, die Gender Pain Gap zu verkleinern und irgendwann vielleicht ganz verschwinden zu sehen. Letztendlich unterliegt die Medizin dabei aber noch vielen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Beispielsweise um die Forschung durch Gelder und öffentlichen Druck noch zusätzlich anzutreiben. Dazu trägt auch der öffentliche Diskurs bei, etwa durch die Medien. So veröffentlichte die “Bild der Frau” im Oktober 2024 erstmalig eine Liste mit ärztlichen Anlaufstellen für gendergerechte Medizin, die “Ärzteliste speziell für Frauen”.
Stellenanzeigen im Gesundheitswesen
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- Hoffmann, Fillingim, Veasley, The Woman Who Cried Pain: Do Sex-Based Disparities Still Exist in the Experience and Treatment of Pain?, erschien in Journal of Law, Medicine & Ethics, Ausgabe 50, 2022
- Comparison of Hospital Mortality and Readmission Rates by Physician and Patient Sex, erschien in: Annals of Internal Medicine, Ausgabe 177, 2024
- Wilde, Hysterie, erschien in: Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter, Springer (Verlag), 1995
- Deutscher Ärztinnenbund e.V., Deutsche Gesellschaft für Geschlechterspezifische Medizin e.V., Aktueller Stand der Integration von Aspekten der Geschlechtersensibilität und des Geschlechterwissens in Rahmenlehr- und Ausbildungsrahmenpläne, Ausbildungskonzepte, -curricula und Lernzielkataloge für Beschäftigte im Gesundheitswesen, Charité, 2019
- Gender Pain Gap Index Report, Nurofen, Year 3, 2024