Wenn es um geschlechtergerechte Forschung in der Medizin geht, sind Frauen oft im Nachteil. Geforscht wird hauptsächlich an Männern. Doch gerade im Bereich Medizin müsste die Gleichberechtigung doch gegeben sein. Schließlich sollte man bei der Behandlung seiner Patienten keine geschlechtlichen Unterschiede machen. Oder?
Der Mann als Standard in der medizinischen Forschung
Geschlechtergerechte Forschung in der Medizin – ganz so einfach ist es damit leider nicht. In der medizinischen Forschung, welche u.a. Medikamente entwickelt und die entsprechenden Dosen für die Behandlung diverser Krankheitsbilder festlegt, galt bis vor Kurzem der Mann als Standard. Die Medizin bezog in ihre Studien sogar ausdrücklich keine Frauen mit ein, nachdem Ender der 50er- und Anfang der 60er-Jahre Tausende Frauen, die in der Schwangerschaft das Medikament Contergan genommen hatten, Kinder mit Fehlbildungen zur Welt gebracht hatten. Um aufgrund dieses weltweiten Medikamentenskandals zu verhindern, dass Frauen während einer laufenden Medikamentenstudie unbemerkt schwanger werden und eventuell ein behindertes Kind bekommen, wurden Frauen kategorisch von klinischen Medikamentenstudien ausgeschlossen. Das mag auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen, denn schließlich will kein Forscher ungeborenes Leben gefährden.
Doch Anfang der 90er-Jahre trat ein weitläufiges Problem in Erscheinung: Berichte häuften sich, dass Medikamente bei weiblichen Patienten anders wirkten als bei männlichen und Studien bewiesen, dass Frauen mit Herzerkrankungen im Krankenhaus schlechter behandelt wurden als Männer. 1994 zog das medizinische Establishment in den USA daher die Konsequenzen und veröffentlichte neue medizinische Richtlinien, wonach künftig auch weibliche Probanden in klinischen Studien zu testen seien. Doch ganz so einfach ließ sich das Problem trotzdem nicht lösen.
Geschlechtergerechte Forschung durch Gendermedizin
Im deutschen und englischen Sprachgebrauch wird das Konzept „Geschlecht“ unterschiedlich gehandhabt. Dies trägt der neuen sozialen Auffassung Rechnung, dass das deutsche Wort „Geschlecht“ zu ungenau sei, um die Unterschiede zwischen Mann und Frau zu erklären.
Die Geschlechterforschung hat daher zur besseren Unterscheidung zwei englische Begriffe übernommen: „Sex“ und „Gender“. Während „Gender“ sich auf das soziale und kulturelle Dasein von Männern und Frauen bezieht (z.B. wie man sich kleidet, nach außen hin agiert o.ä.), umschreibt „Sex“ das biologische Geschlecht, welches sich durch die Geschlechtschromosomen X und Y bestimmt und Frauen von Männern biologisch unterscheidet. Die genetische Information der X- und Y-Chromosomen legt nicht nur fest, welche Sexualhormone im Körper produziert werden, sondern beeinflusst auch maßgeblich das Herz-Kreislauf-System, den Stoffwechsel und das Immunsystem. Dieser genetische Unterschied zwischen den Geschlechtern bewirkt, dass manche Erkrankungen primär Frauen oder Männer betreffen: Frauen leiden z.B. öfter unter Autoimmun- oder Schilddrüsenerkrankungen, der plötzliche Herztod per Herzinfarkt trifft hingegen zu zwei Dritteln Männer.
Um diesem Unterschied Rechnung zu tragen, wurde die sogenannte Gendermedizin ins Leben gerufen, deren Anspruch es ist, geschlechtergerechte Forschung in der Medizin zu betreiben.
Frauensymptome und Männersymptome sind unterschiedlich
Stellt man sich den Herzinfarkt bildlich vor, sieht man sofort einen Mann mittleren Alters vor seinem inneren Auge, der sich ans Herz greift und über Symptome wie Atemnot, Schmerzen im linken Arm und Stechen in der Brust klagt. Dieses Bild macht es bereits klar: Männer kriegen Herzinfarkte, Frauen haben „unspezifische Beschwerden“.
Dies sieht in der Realität der Krankenhäuser meist folgendermaßen aus: Wenn ein Mann in die Notaufnahme kommt und über stechende Schmerzen in der Brust klagt, schwebt er in Lebensgefahr und wird entsprechend behandelt. Frauen bestätigen laut Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek, die an der Charité Berlin das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin leitet, jedoch erst auf gezielte Nachfrage hin das verräterisch-symptomatische Druck- oder Engegefühl in der Brust: „Wenn der Arzt oder die Ärztin hier den Unterschied der Symptome zwischen Mann und Frau nicht beachtet, stirbt ein Mensch. Aber es gibt in allen Bereichen der Medizin Beispiele dafür, dass eine geschlechterspezifische Behandlung wichtig wäre – und nicht der Standard ist.“
Medikamente wirken unterschiedlich bei Mann und Frau
In ihrer Studie „The sex-related differences in aspirin pharmacokinetics in rabbits and man and its relationship to antiplatelet effects“ stellten Buchanan et al 1982 die These auf, dass die in der medizinischen Forschung bewiesenen Anti-Thrombose-Effekte von Aspirin bei Männern und Frauen unterschiedliche Auswirkungen haben. Sie testeten daher anhand von zunächst männlichen und weiblichen Kaninchen und später Männern und Frauen, ob dies allein auf den Geschlechtsunterschied zurückzuführen sei und kamen zu einem positiven Ergebnis.
Aspirin wurde von Kaninchenweibchen schneller absorbiert, in größerem Volumen im Körper verteilt und schneller hydrolysiert als von Kaninchenmännchen, was wiederum den Schluss nahelegte, dass die Anti-Thrombose-Wirkung bei Frauen nicht so deutlich ist wie bei Männern, da Frauen den Wirkstoff schneller wieder verstoffwechseln und ausscheiden, bevor er seine volle Wirkung entfalten kann. Männer, deren Thrombosen mit Aspirin behandelt werden, haben daher einen größeren Nutzen von einer Dosis als Frauen. Dementsprechend bewiesen Buchanan et al, dass die Dosierung von Aspirin zur Thrombose-Vorbeugung bei Männern und Frauen unterschiedlich hoch ausfallen muss.
Unterschiedliche Arten und Mengen von Stoffwechselenzymen
Doch nicht nur Aspirin wird von Frauen anders verstoffwechselt als von Männern: Eine Tablette – egal welcher Art – braucht bei Frauen etwa doppelt so lange, um durch den gesamten Verdauungstrakt vom Mund durch Speiseröhre und Magen in den Darm zu gelangen, als bei Männern. Auch in der Leber, wo der aufgenommene Wirkstoff verarbeitet wird, werden bei Frauen und Männern erstens verschiedene Stoffwechselenzyme und diese zweitens in unterschiedlichen Mengen und Stärken produziert.
Das erschwert sowohl die Medikamentengabe als auch die Dosierungsempfehlungen der Medikamentenhersteller erheblich, denn manche Wirkstoffe müssen von einem bestimmten Enzym erst aktiviert oder abgebaut werden, bevor sie ihre volle Wirkung entfalten können. Dass Männer und Frauen unterschiedlich mit Enzymen ausgestattet sind, wirkt sich also unmittelbar darauf aus, wie lange und wie viel aktiver Wirkstoff eines Medikaments überhaupt im Blutkreislauf ankommt. Gleichzeitig verteilt sich durch den bei Frauen meist höheren Körperfettanteil und ihre vergleichsweise oft geringere Körpergröße der Wirkstoff im Gewebe ganz anders als bei Männern.
Demzufolge benötigen Männer und Frauen strenggenommen unterschiedliche Beipackzettel, Dosierungen oder Darreichungsformen von Medikamenten. In der Praxis findet sich jedoch nichts dergleichen, und die wenigsten praktizierenden Ärzte wissen überhaupt, dass die von ihnen verschriebenen Medikamente von einer kleinen Frau ganz anders verarbeitet werden als von einem großen Mann.
Gleichberechtigung in medizinischen Studien
Trotz dieser Forschungsergebnisse wird laut Regitz-Zagrosek nach wie vor die Bedeutung des Geschlechts in vielen medizinischen Studien und damit die Notwendigkeit für geschlechtergerechte Forschung weiterhin standhaft ignoriert: „Oft ist nur ein Drittel oder ein Viertel der Teilnehmer an Herz-Kreislauf-Studien weiblich. Unsere Forderung nach mehr Frauen in Studien findet sich inzwischen sogar in internationalen Leitlinien. Die Pharmaindustrie fürchtet jedoch, dass die Einbeziehung von Frauen in Studien die Arbeit komplizierter macht.“
Diese Verkomplizierung liegt daran, dass der feminine Körper durch den weiblichen Zyklus, die Einnahme von Verhütungsmitteln oder die Wechseljahre größeren Hormonschwankungen ausgesetzt ist als der männliche und daher jemand, der Frauen in eine Forschungsarbeit mit einbeziehen möchte, eine deutlich höhere Anzahl von Teilnehmerinnen als Teilnehmern braucht, um verlässliche Ergebnisse zu bekommen. Außerdem ist es deutlich einfacher, neue Studienergebnisse mit alten zu vergleichen, wenn der Teilnehmerpool der gleiche ist. Studien haben außerdem bewiesen, dass bei Frauen anderthalbmal häufiger als bei Männern unerwünschte Nebenwirkungen auftreten – von Kopfschmerzen bis hin zum Kreislaufschock – was die Forschungsarbeit nochmals deutlich verkompliziert, denn jede Nebenwirkung muss untersucht und in den Nebenwirkungskatalog mit aufgenommen werden.
Fehlende medizinische Gleichberechtigung hat auch Nachteile für Männer
Man könnte nun annehmen, dass allein Frauen den Kürzeren in der geschlechtsdiskriminierenden Forschung ziehen – doch dies wäre ein Fehlschluss. Männer ziehen ebenfalls Nachteile aus dieser Ungleichbehandlung, denn bei Männern wird z.B. viel seltener eine Depression diagnostiziert als bei Frauen. Das „Gender“ (d.h. das gesellschaftlich und kulturell definierte Bild, das einen Mann und eine Frau ausmacht) beeinflusst z.B. die Wahrnehmung des Arztes von seinem Patienten. Sitzt ein depressiver Mann vor einem Arzt, erkennt dieser nur halb so oft wie bei Frauen eine Depression und sucht stattdessen nach anderen Erklärungen für seine Symptome.
Männer sind auch kulturell benachteiligt, denn das Gesellschaftsbild vom „harten Kerl“ beeinflusst, ob „Mann“ zur Vorsorgeuntersuchung geht, wie er sich ernährt, ob er raucht oder ob er Sport treibt. Männer geben aufgrund dieses verklärten Männlichkeitsbildes deutlich seltener als Frauen zu, psychische oder physische Probleme zu haben, da sie nicht „schwach“ erscheinen wollen. Sie suchen daher deutlich seltener Hilfe beim Arzt als Frauen und greifen stattdessen deutlich häufiger zu nicht verschreiblungspflichtigen Medikamenten, Drogen und/oder Alkohol als „Selbstbehandlung“. Diese männliche Benachteiligung kann durchaus dafür mitverantwortlich sein, dass sich Männer drei- bis fünfmal so häufig das Leben nehmen wie Frauen.
Geschlechtergerechte Forschung in Deutschland
Diese Fälle von nicht diagnostizierten Depressionen, verkannten Herzinfarkten und unterschiedlichen Medikamentenwirkungen hat sich jedoch bis heute nicht bei Ärztinnen und Ärzten durchgesetzt; auch nicht bei der neuen Generation, obwohl man dies annehmen könnte. Dies zeigt sich auch darin, dass es bisher nur ein Institut für Gendermedizin in ganz Deutschland gibt, das geschlechtergerechte Forschung betreibt; das Institut für Geschlechtermedizin an der Charité Berlin.
Österreich geht hier mit großen Schritten beispielhaft voraus und zeigt, wie effektiv es sein kann, Gendermedizin zum Lehrinhalt zu machen: An den medizinischen Universitäten wird Studenten sowohl im Studium selbst als auch im Praxisjahr beigebracht, wie unterschiedlich Männer und Frauen behandelt werden sollten. Dies hatte bereits im Jahr 2017 den Effekt, dass das Bewusstsein für Geschlechterunterschiede in der Medizin bei Studenten, Ärzten und Patienten deutlich anstieg. Deutschland könnte diesem Beispiel folgen.
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