Der WHO-Bericht zur Lage der gesundheitlichen Versorgung in Europa geht hart mit den Verantwortlichen ins Gericht. Die Weltgesundheitsorganisation deckt mit ihrer Publikation einige Missstände in den Gesundheitssystemen auf und mahnt dringlichst zum Handeln. Nicht ohne Grund lautet der Titel “Time to act”. Zum Handeln ist es aller höchste Zeit, macht die WHO deutlich. Folgen jetzt keine konkreten Handlungsschritte, drohen schwere Konsequenzen und das für ausnahmslos alle Länder.
In diesem Artikel gibt es einen Überblick zu den Inhalten des WHO-Berichtes und einen kritischen Blick darauf, welcher Rolle Deutschland im Speziellen dabei zukommt.
WHO-Bericht – Warum kommt er genau jetzt?
Im September vergangenen Jahres hat die Weltgesundheitsorganisation einen Bericht zur gesundheitlichen Versorgungslage in den 53 Ländern des europäischen Kontinents veröffentlicht. “Bericht” trifft es dabei eher weniger, vielmehr könnte man die Publikation als düsteres Zeugnis der Gesundheitssysteme bezeichnen. Es handelt sich dabei um den ersten Bericht dieser Art überhaupt und nach Meinung der WHO ist dieser auch dringend notwendig. Vor allem die Covid-19 Pandemie hat die Stärken und Schwächen der Gesundheitssysteme im europäischen Raum ohne Rücksicht auf Verluste offen gelegt – ein “Whistleblower” quasi, vor dem niemand mehr die Augen verschließen konnte.
Das Fazit des WHO-Berichtes lautet daher, dass die europäischen Länder momentan ein gigantisches Risiko mit sich herumschleppen. Sie prognostiziert: Ohne eine zielgerichtete Politik in diesem Bereich wird der Druck auf den Gesundheitssektor zukünftig noch weiter ansteigen. Die Folgen für die Bevölkerung könnten fatal sein.
Ausbildungsplätze als Pflegefachkraft
WHO-Bericht – Das gnadenlose Zeugnis für Europa
Doch was genau läuft eigentlich schief? In dem knapp über 200 Seiten langen WHO-Bericht mangelt es keineswegs an deutlichen Beispielen. Ein erstes und folgenschweres Problem beziffert die WHO mit dem Personalmangel im Gesundheitswesen. Damit steht nicht nur die aktuelle Situation am Pranger, sondern auch die zukünftige Entwicklung sieht alles andere als rosig aus. Diverse gesundheitsbezogene Institutionen stolpern über geeignete Maßnahmen, um fachkundiges Personal, wie Gesundheits- und Krankenpfleger/innen oder Physiotherapeuten/-innen, überhaupt erst anzuwerben, anschließend zufriedenstellende Arbeitsbedingungen zu liefern und die Fachkräfte somit auch langfristig zu halten.
Weiter wirft der WHO-Bericht den Ländern vor, eine ineffiziente Arbeitsorganisation an den Tag zu legen. Dazu zählt außerdem, dass verfügbare digitale Unterstützungssysteme nicht ausreichend genutzt werden. Außerdem lassen viele Arbeitsgebiete bezüglich einer genauen Abgrenzung der Aufgabenbereiche deutlich zu wünschen übrig. Vor allem im ersten Punkt gibt es in Deutschland zahlreiche Baustellen: Während andere Länder, wie zum Beispiel Estland, keine Möglichkeit der digitalen Unterstützung unversucht lassen, quält sich Deutschland immer noch mit der Einführung der elektronischen Patientenakte herum.
Digitalisierung in der Arztpraxis
Die Arbeitsstrukturen im deutschen Gesundheitssystems funktionieren an vielen Stellen och größten Teils analog. Auch wenn Neuerungen wie die elektronische Patientenakte oder das E-Rezept die deutschen Praxen in ein neues digitales Zeitalter heben sollten, tun sich viele mit der Umstellung schwer, was den Prozess in der Vergangenheit immer wieder verlangsamt hat.
Zusätzlich erhalten auch die Köpfe der gesundheitlichen Versorgung eine deutliche Rüge innerhalb des WHO-Berichtes. Die WHO findet, dass das gesamte gesundheitliche System schlecht überwacht und gemanagt sei und zudem einer allgemein schlechten strategischen Planung unterliegen würde. Auf der politischen Ebene wirft der WHO-Bericht den europäischen Akteuren/-innen ungenügende Investitionsmaßnahmen vor. Alles in allem kann man von schweren Vorwürfen sprechen, die die Weltgesundheitsorganisation den Ländern des europäischen Kontinents vorhält.
WHO-Bericht – Wie kommt Deutschland davon?
Um die Lage in Deutschland zu bewerten, sollte man sich zunächst einmal mit den expliziten Zahlen für das Land beschäftigen. In dem 2022 veröffentlichten WHO-Bericht stammen die Daten meist aus dem Jahr 2019. Eine wichtige Orientierungsgröße stellt bei der Analyse die Versorgungsdichte dar. Diese Zahl entspricht der Anzahl an Fachpersonal auf eine bestimmte Einwohnerzahl, egal, ob krank oder gesund. Betrachtet man die Bundesrepublik, so kommen auf eine Bevölkerung von 10.000 Menschen etwa 43,9 Ärzte/-innen und 139,5 Pflegefachkräfte. Mit diesen Zahlen steht Deutschland vergleichsweise solide da: Der Durchschnitt für die Ärztedichte liegt etwa 16 Prozent darunter (37 / 10.000), der für Pflegemitarbeiter/innen beträgt sogar ganze 46 Prozent (80 / 10.000) weniger.
Was darüber hinaus im Bericht ein wenig untergeht, ist die recht positive Entwicklung in der Vergangenheit, die Deutschland hingelegt hat. Demnach sind die Ärztezahlen von 2010 bis 2019 um 18 Prozent gestiegen, bei den Krankenschwestern/-pflegern um 20 Prozent. Auch andere Berufe haben Zuwachs erhalten: Hebammen (+ 19 Prozent), Apotheker/innen (+ 8 Prozent) und Zahnärzte/innen (+ 4 Prozent) verzeichnen ein nennenswertes Wachstum in diesem Zeitraum. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Bundesrepublik in der Vergangenheit sinnvolle Schritte zur Aufrechterhaltung der gesundheitlichen Versorgung gegangen sein muss.
Ausbildungsplätze als Altenpfleger/in
Düstere Prognosen
Dennoch muss man festhalten: Auch wenn die Covid-19 Pandemie das deutsche Gesundheitssystem nicht zum Einsturz gebracht hat, könnte die Versorgungslage hierzulande zukünftig deutlich kritischer werden. Grund dafür ist vor allem die Altersstruktur in den spezifischen Fachbereichen. Die folgende Grafik zeigt einmal die Verteilung hinsichtlich des Alters in der deutschen Ärzteschaft.
Richtet man das Augenmerk auf die beiden rechten Säulen der Grafik, wird die Problematik klar: Rund 45 Prozent aller Ärzte/-innen sind älter als 55 Jahre. Von dort aus ist es bis zum aktuellen Renteneintrittsalter von 65 Jahren nicht mehr allzu weit. Die jüngste Altersgruppe macht hingegen nur etwa 20 Prozent aller Ärzte/-innen aus. Wenn innerhalb der nächsten Jahre fast die Hälfte der Ärzte/-innen aus dem Berufsleben ausscheidet, klafft hier eine riesige Lücke. Natürlich kann man so das Niveau der Versorgungsdichte über die nächsten Jahre nicht mehr aufrecht erhalten.
Laut einer Studie für das Wirtschaftsministerium gab es im Jahr 2022 knapp 35.000 unbesetzte Stellen im Gesundheitswesen. Das entspricht einem Anstieg um 40 Prozent innerhalb eines Jahrzehnts. Dementsprechend hart ist die Arbeitssituation für Pflegende bereits jetzt: Einer Umfrage zufolge klagen neun von zehn Kliniken mit über 50 Betten über einen überdurchschnittlichen Personalmangel. Diesem Umstand passt sich nur leider nicht der Nachschub an Patienten/-innen an. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Durch die alternde Bevölkerung steigt tendenziell der medizinische Bedarf rapide an.
Schätzungen einer PWC-Studie zufolge könnten bis 2035 voraussichtlich 1,8 Millionen Stellen nicht mehr besetzt werden. Bei all diesen Zahlen sollten deutlich die Alarmglocken schrillen. Auch wenn die Bundesrepublik laut dem WHO-Bericht aktuell noch recht solide dasteht, droht zukünftig ein Abrutschen in die Unterversorgung, sofern keine weitreichenden Maßnahmen ergriffen werden.
Ausbildungsplätze als Hebamme
WHO-Bericht – Fazit
„Personalknappheit, unzureichende Rekrutierung und Bindung von Fachkräften, Abwanderung von Fachkräften, unattraktive Arbeitsbedingungen und mangelnder Zugang zu Weiterbildungsmöglichkeiten – all das plagt die Gesundheitssysteme“, sagt Regionaldirektor für Europa bei der WHO, Dr. Hans Henri Kluge. Die bildliche “Zeitbombe”, von der Kluge darüber hinaus spricht, ist auch in Deutschland deponiert. Im Vergleich mit den anderen Ländern auf europäischem Boden ist der Countdown bis zur Katastrophe zwar noch etwas hin; nichtsdestotrotz werden viele der erwähnten Faktoren das Ablaufen der Uhr in Zukunft beängstigend beschleunigen.
Der WHO-Bericht ruft deswegen zu dringendem Handlungsbedarf auf. Nur wer jetzt schnell und effektiv reagiert, kann sich vermutlich der drohenden Katastrophe entziehen. Nur wenn gehandelt wird, kann man die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen, mit langen Wartezeiten, die zahlreichen vermeidbaren Todesfälle und auch das Kollabieren ganzer Gesundheitssysteme verhindern, so Kluge. Oder, wie es die WHO schon im Titel ihres Berichtes ausdrückt: “Time to act.”
Stellenangebote für medizinisches Fachpersonal
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- Medizinischer Fachkräftemangel eskaliert, https://deutsch.medscape.com/... (Abrufdatum: 02.02.2023)
- Gesundheitswirtschaft als Jobmotor, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/... (Abrufdatum: 03.02.2023)
- Health and care workforce in Europe: time to act, https://apps.who.int/... (Abrufdatum: 02.02.2023)